Die Kunst der Ablehnung: Warum es in der Führung Nein-Sager braucht
Eine Kunst, die Führungskräfte meiner Meinung nach unbedingt beherrschen müssen, ist die der Ablehnung, auch wenn es oft alles andere als leicht ist, ein Nein auszusprechen. 💪👥
Markus hatte mich in einer E-Mail kurzfristig um einen dringenden Gesprächstermin gebeten. Er habe mit einer komplexen Herausforderung zu kämpfen und möchte mit mir darüber sprechen. Worum genau es ging, wollte er nicht per Mail ausführen, sondern mit mir persönlich besprechen. Markus hatte Glück, denn zufällig fiel am Abend ein Termin aus, weshalb ich ihn kurzfristig zu mir ins Büro bat. Als er schliesslich zum Coaching kam, konnte ich sofort spüren, dass etwas nicht stimmte. Seine Kiefer waren angespannt und bevor er überhaupt Platz nehmen konnte, platzte es aus ihm heraus: «Nein!»
Verwirrt sah ich ihn an, doch seine Erklärung folgte prompt: «Warum fällt es mir so schwer Nein zu sagen?» Ich kenne Markus schon seit einiger Zeit und weiss, dass er nur sehr ungern Ablehnung ausspricht. Er ist jemand, der gerne alle zufriedenstellte. «Ich habe bereits bewusst Aufgaben reduziert, um das Team zu entlasten und uns auf wertschöpfende Tätigkeiten zu fokussieren», fuhr Markus fort. «Und dann kommt der CEO mit einem neuen Projekt, das mehrere von uns über Monate bindet. Was soll ich in dieser Situation tun? Ich will weder mich und mein Team überlasten noch den Verwaltungsrat enttäuschen …»
Nachdem wir bereits vor einigen Monaten das Arbeitsumfeld von Markus auf eine wertzentrierte Kultur ausgerichtet hatten, lag es nun an ihm, dieses Prinzip zu bewahren und dazu gehört auch, Nein zu sagen. Um die Stimmung etwas aufzulockern, gebe ich Markus einen kleinen Impuls in Form eines Zitats: «Die Fähigkeit, das Wort Nein auszusprechen, ist der erste Schritt zur Freiheit.» Das stammt nicht etwa von mir, sondern wurde vom französischen Schriftsteller Nicolas Chamfort so prägnant formuliert.
Ich weiss, dass Nein zu den Wörtern gehört, die sich oft nur schwer aussprechen lassen. Es wird immer Momente geben, in denen Vorgesetzten darum bitten, zusätzliche Aktivitäten zu übernehmen – und dann liegt es an dir als Führungskraft wie du reagierst und welchen Preis du ggf. dafür zahlst, wenn du zu allem ja sagst. Markus versteht den Gedanken, und doch sitzt er seiner Ansicht nach in einer Zwickmühle, denn in seiner hierarchischen Organisation mit klaren Weisungsbefugnissen liegt es nicht in seiner Entscheidungsgewalt, die Aufgaben einfach abzulehnen. Jetzt ist es von immenser Bedeutung, dass er lernt, klarzustellen, was er gerade macht und warum. Das Nein-Sagen fällt ihm besonders schwer, da er sowohl seinen Vorgesetzten als auch Teammitgliedern gerecht werden will. Aber effektive Führung erfordert eben auch die Kunst der Ablehnung.
Indirekt direkt Nein sagen
In der Führung braucht es oftmals einen Nein-Sager, um das Team zu schützen und nicht durch ständig wechselnde Prioritäten zu verwirren. Ein direktes Nein ist dabei manchmal gar nicht nötig, denn es gibt viele Möglichkeiten auch indirekt etwas abzulehnen, ohne dem Gegenüber vor den Kopf zu stossen. Aus diesem Grund gehe ich mit Markus einige kurze Szenarien durch und zeige ihm, wie er reagieren könnte. Ich frage ihn, wie er wie er antworten würde, wenn jemand mit einer vielversprechenden Idee zu ihm kommt oder er von seinen Vorgesetzten eine neue Aufgabe erhält. Markus ist sich zunächst unsicher, ob das eine Fangfrage ist und er jetzt mit Nein antworten soll, andererseits kann die neue Initiative sehr gewinnbringend sein und eine Aufgabe vom Chef ablehnen ist per se erst einmal nicht möglich. Ich erlöse Markus und gebe ihm eine mögliche Formulierung, die er nutzen kann: «Würde die Erledigung dieser neuen Aufgabe so viel Wert schaffen, dass wir unsere aktuellen Prioritäten überdenken müssen?» Diese Frage sollte grundsätzlich bei allem gestellt werden und darauf gibt es zwei mögliche Antworten.
Option 1: der Idealfall
In seltenen Fällen tritt die erste Option, der Idealfall, ein. Die Aufgabe oder neue Initiative scheint tatsächlich einen erheblichen Mehrwert zu schaffen. Das Problem ist allerdings, dass alle Ressourcen bereits vollständig gebunden sind. Viele Führungskräfte laufen Gefahr jetzt in eine Falle zu tappen und ohne grossartig zu überlegen, stimmen sie der Mehrarbeit zu. Ich gebe an dieser Stelle immer die Empfehlung mittzuteilen, dass es keinen Puffer gibt und wie man gemeinsam an einer Lösung arbeiten kann. Eine Möglichkeit wäre, diese neue Initiative aktuellen Aufgaben vorzuziehen und den Plan dementsprechend anzupassen. Falls du aber vermeiden möchtest, dass laufenden Projekte dadurch verzögert werden, kannst du mit deinem Vorgesetzten überlegen, Ressourcen aus anderen Projekten dafür einzusetzen. Dies ist eine hervorragende Gelegenheit, Unterstützung von deinem Vorgesetzten zu erhalten, um dein potenzielles Ressourcenproblem zu lösen. Ich rate Markus, dabei auf die Wir-Form zu achten, sodass er seinen Vorgesetzten mit in die Verantwortung nimmt.
Option 2: die Realität
Die Realität zeigt, dass neue Initiativen häufig nicht wertstiftender als die aktuellen Projekte sind – eine Erfahrung, die Markus bereits mehr als einmal gemacht hat. Geradezu euphorisch wurde er von oben schon mit scheinbar dringenderen, aktuelleren oder innovativen Projekten betraut, ohne den Mut zu haben, diesen zu widersprechen. Damit ihm das nicht mehr passiert, könnte er darauf wie folgt antworten: «Sicher, das klingt interessant. Lass uns unsere derzeitigen Prioritäten betrachten und dann gemeinsam entscheiden, wie wir dies einordnen können.» So lässt sich das Gespräch geschickt in eine Richtung lenken, die es ermöglicht, Prioritäten auszuloten, ohne direkt ablehnen zu müssen. Wird auf dem neuen Projekt beharrt, ist eine mögliche Frage, die dieser Aussage folgen kann: «In Ordnung, das beinhaltet eine Umverteilung der Ressourcen, die die laufenden Projekte potenziell gefährden könnte. Würde es für dich in Ordnung gehen, wenn dieses aktuelle Projekt im Worst-Case-Szenario nicht realisiert wird?»
Sei dir der Folgen deines «Ja» bewusst
Abschliessend gebe ich Markus mit auf den Weg, dass wenn er einen Dialog mit den Worten: «Lass uns zunächst erörtern, wie das unsere bestehenden Pläne beeinflusst» eröffnet, er die geschickteste Weise wählt, um indirekt nein zu sagen. Er sollte sich immer vor Augen führen, dass er, wenn er allem zustimmt und zu allen Aufgaben Ja sagt, sich und sein Team unter enormen Druck setzt und wir alle wissen, welche Folgen das mit sich bringen kann.
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